FR-Aktion „Was ist gerecht?“

FR-Gerechtigkeitsvorschlag_11-2014In der Frankfurter Rundschau wurde Ende 2014 der Themenschwerpunkt „Gerechtigkeit“ auf unterschiedliche Weise bearbeitet. Unter anderem konnten Recherchevorschläge zum Thema „Was ist gerecht?“ für eine Online-Abstimmung eingereicht werden, wobei die drei Vorschläge mit dem besten Ergebnis durch die Redaktion recherchiert werden sollten.

Im Namen von intaktiv e.V. wurde von Dr. Meike Beier der Vorschlag „Geschlechterdiskriminierung bei Körperverletzung“ mit folgender Fragestellung eingereicht:

„Ist es gerecht, dass in Deutschland innerhalb weniger Monate zwei Gesetze in Kraft getreten sind, von denen eines (§ 226a StGB) die Verstümmelung weiblicher Genitalien vom strafbaren Vergehen zum Verbrechen hochstuft, verbunden mit einer entsprechenden Erhöhung des Strafmaßes, während das andere (§ 1631 d BGB) es Eltern männlicher Kinder freistellt, deren Vorhaut aus beliebigen Gründen amputieren zu lassen, und es gleichzeitig für die betroffenen Jungen unmöglich macht, jemals Klage wegen der an ihnen begangenen Körperverletzung zu erheben?“

Obwohl der Vorschlag viele Stimmen erhielt und eine intensive Online-Diskussion hervorrief, hat sich die FR-Redaktion aufgrund des aus ihrer Sicht darin angestellten Vergleiches von Vorhautamputation bei Jungen und weiblicher Genitalverstümmelung leider dafür entschieden, das Thema nicht aufzugreifen.

Selbstverständlich sind wir mit dieser Entscheidung nicht glücklich. Wir haben uns jedoch mittlerweile mit der FR ausgetauscht. Auch wenn es im Rahmen des Gerechtigkeitsschwerpunktes nicht behandelt wurde, wird das Thema Vorhautamputation durch die FR weiter und auch kritisch verfolgt werden, wie es z. B. bereits in Form der umfassenden Blogtalks mit intaktiv und zur Ausstellung „Haut ab!“ der Fall war.

Da nach dem Abschluss der Abstimmung die FR-Webseite zur Aktion offline ging, möchten wir hier nun noch die abschließenden Kommentare von Meike Beier aus der Diskussion über ihren Recherchevorschlag zur Verfügung stellen:

Vorrede

Bisher habe ich mich an der Diskussion hier nicht beteiligt, da ich es zum einen als unangemessen empfand, den Vorschlag als Einreicherin selbst zu verteidigen, zum anderen die anderen Kommentierenden bereits so wunderbar eloquent und teilweise aufgrund persönlicher Betroffenheit wesentlich authentischer argumentieren konnten. Aber nachdem der von mir sehr geschätzte Bronski mich nun direkt angesprochen hat, äußere ich mich natürlich gerne. Ich bitte, die Länge und Aufsplittung zu entschuldigen – es haben sich einige Themen angesammelt und ich werde mich auch für eine Weile nicht wieder melden können.

Zunächst einmal möchte ich mich klar distanzieren von der Sabotage dieser Seite und der Abstimmung, unabhängig davon, ob sie nun aus den Reihen der Intaktivisten (was ich nicht hoffen will!) oder von anderer Seite kam. Ich heiße solche Methoden generell nicht gut und bin der Meinung, dass sie (je)der Sache nur schaden.

Gegenüberstellung mit FGM, Teil 1

Nun zum Thema „Vergleich“ mit FGM: Abgesehen davon, dass ich nicht das (nicht von mir, sondern von der FR-Redaktion aufgebrachte) Wort „Vergleich“, sondern „Gegenüberstellung“ verwenden würde, habe ich kein Problem damit und hoffe zum einen, als Frau unverdächtig zu sein, das Leid anderer Frauen zu relativieren bzw. ihnen den Opferstatus und rechtlichen Schutz nicht zu gönnen, und weiß mich zum anderen mit dieser Position in der guten Gesellschaft von Anti-FGM-Aktivistinnen sowie selbst genital verstümmelten Frauen.

Solange sich nicht die simple, eigentlich selbstverständliche Erkenntnis durchgesetzt hat, dass JEDER nicht unmittelbar medizinisch notwendige Eingriff an Kindergenitalien zu unterbleiben hat, halte ich es im Sinne von Aufklärung und Klarstellung für absolut legitim, sich anzuschauen, welche Formen und Umstände es bei weiblicher und männlicher Genitalverstümmelung gibt, welches Schadensausmaß sie jeweils anrichten und wo es ggf. Analoga gibt bzw. wo in dem entstehenden Spektrum eine „typische“ Vorhautamputation zu verorten ist. Eine Abwehrhaltung gegen eine solche Betrachtung kann mE nur in der Angst begründet sein, dass dadurch das einfache, bequeme S/W-Weltbild, dass FGM (immer) eine brutale Verstümmelung, MGM dagegen ein harmloser kleiner Schnitt, wenn nicht gar eine gesundheitliche und sexuelle Wohltat ist, zertrümmert würde, mit der Konsequenz, dass entweder medikalisierte und „milde“ FGM-Formen erlaubt ([hoffentlich] allgemein inaktzeptabel) oder Vorhautamputationen verboten (politisch nicht gewollt) werden müssten.

Gegenüberstellung mit FGM, Teil 2

In einem Punkt muss ich einem meiner Vorredner widersprechen: Es ist nicht korrekt, dass § 226 a StGB Mädchen und Frauen auch vor der „mildesten“ Form von FGM schützt. Zwar gab es einen ursprünglichen Gesetzentwurf mit der Formulierung „Wer die äußeren Genitalien einer Frau durch Beschneidung oder in anderer Weise verstümmelt…“. Aus dem verabschiedeten Gesetz ist – möglicherweise unter dem Eindruck des zwischenzeitlich erlassenen § 1631 d und der (zu) offenen Geschlechterdiskriminierung, die sich daraus ergeben hätte – das Wort „Beschneidung“ verschwunden: „Wer die äußeren Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt…“.  Eine Definition, was „weibliche Genitalien verstümmeln“ bedeutet, gibt das Gesetz nicht her. Diese Definition wird wohl den Gerichten überlassen bleiben, wenn irgendwann Eltern unter Berufung auf die Harmloserklärung und Freigabe der Vorhautamputation bei Jungen durch § 1631 d ein Recht auf eine „milde“ Form der FGM bei ihrer Tochter einzuklagen versuchen. DAS finde ich wahrhaftig unerträglich! Und es wird nicht eine Abwehrhaltung zur Gegenüberstellung von FGM und MGM verhindert, denn diese Gedanken werden von denjenigen, die „milde“ FGM propagieren und durchführen möchten, auf jeden Fall gedacht.

Nichtsdestotrotz kann ich dem Punkt beipflichten, dass es nicht unbedingt erforderlich ist, die Gegenüberstellung mit FGM heranzuziehen, um Vorhautamputation kritisch zu diskutieren. Der Kasus für genitale Unversehrtheit und Selbstbestimmung von Jungen ist auf Basis von Grundgesetz, Menschen- und Kinderrechten sowie der Fakten über die Vorhaut, ihre Funktionen, die Folgen ihres Verlustes und die Operationsrisiken stark genug, um auf eigenen Füßen stehen zu können. Dennoch erschien mir im Rahmen des Oberthemas „Gerechtigkeit“ die Zuspitzung auf die unterschiedliche RECHTLICHE Behandlung von männlichen und weiblichen Kindern – und nichts weiter habe ich in meinem Recherchevorschlag getan – sinnvoll. Und ganz offensichtlich habe ich damit einen Nerv getroffen.

Berichterstattung in der FR

Zu guter Letzt möchte ich nun auch auf die Berichterstattung in der FR eingehen. Meine Familie ist langjähriger (seit 1971!) Print-Abonnent, so dass ich die Darstellung des Themas Jungen-„Beschneidung“ in der FR nicht erst seit 2012 verfolge. Es ist richtig, dass im Leserforum immer wieder kritische Zuschriften und natürlich unser Blogtalk abgedruckt waren – und ich bin dankbar, dass Bronski dies mit seinem Mut und Einsatz ermöglicht und die Chefredaktion es (zumindest bisher) zugelassen hat. Es ist aber auch ganz eindeutig, dass eine solche kritische bzw. die journalistisch angemessene, faktenbasierte, differenzierte und ausgewogene Betrachtung des Themas im redaktionellen Teil der FR nur sehr untergeordnet stattfindet. Stattdessen herrschen entweder komplette Tabuisierung oder Verteidigung, Verharmlosung und Verherrlichung vor – auch bereits mehrere Jahre vor dem Kölner Urteil, der „Beschneidungsdebatte“ und dem § 1631 d. Beispielsweise hat eine Art Werbeartikel für ein neugegründetes Frankfurter „Beschneidungsinstitut“ der Webseite Phimose-Info schon 2007 Anlass für diese Replik gegeben: http://www.intaktiv-online.de/view-details/pdf-dateien-mit-allgemeinen-informationen-deutsch/31-wo-jungen-schreien.html

Wenn es nun – diesem langjährigen und 2012 verstärkten Eindruck zum Trotz – tatsächlich so ist, dass sich die FR-Redaktion bei meinem Recherchevorschlag NUR an der Gegenüberstellung von FGM und MGM stört, dann bitte ich darum, alternativ folgendes Thema in Betracht zu ziehen: „Ist es gerecht, dass § 1631 d BGB es Eltern ermöglicht, aus beliebigen Gründen einen hochsensiblen und sexuell funktionalen Teil der Genitalien ihrer minderjährigen, nicht einwilligungsfähigen Söhne amputieren zu lassen und es gleichzeitig für die betroffenen Jungen unmöglich macht, jemals wegen der an ihnen begangenen Körperverletzung den Klageweg zu beschreiten?“

Ansonsten gefällt mir der Vorschlag, den Aspekt der Behandlung in den Medien zu analysieren, auch sehr gut. An archivierten Artikeln aus der FR und anderen Zeitungen sollte es nicht fehlen.