zu Teil 4, „Gründe und Wahrnehmung durch Betroffene“
Wenig bekannt ist, das Formen von FGM bis weit in das 20. Jahrhundert hinein auch in Europa und insbesondere den USA praktiziert wurden.
Ursprünglicher Hintergrund der Praktik war – analog zur sogenannten routinemäßigen „Beschneidung“ männlicher Säuglinge – die Sexualitätsfeindlichkeit des 19. Jahrhunderts vor allem im englischsprachigen Raum. Insbesondere Masturbation sollte damit bestraft und / oder unterbunden werden. Später wurden weibliche „Leiden“ wie Hysterie als Rechtfertigung angeführt.
Neben der zunehmenden Verbreitung von traditionellen FGM-Praktiken aufgrund von Migration nehmen heute Schönheitsoperationen an den Genitalien bzw. Eingriffe, von denen sich die Frau eine Steigerung des Lustempfindens verspricht, zu. So werden beispielsweise die inneren Schamlippen oder die Klitorisvorhaut reduziert oder die Vagina gestrafft und verengt. Aus Sicht von intaktiv sind auch diese freiwilligen Eingriffe durchaus kritisch zu sehen, insoweit ihnen Druck von Gesellschaft bzw. Partner oder unrealistische Idealvorstellungen zugrundeliegen und die Aufklärung über Erfolgsaussichten bzw. mögliche negative Folgen unzureichend ist.
In Deutschland war und ist – richtigerweise und wie in den meisten Staaten weltweit – jede Form der Verstümmelung weiblicher Genitalien als Körperverletzung bzw. gefährliche Körperverletzung strafbar und wurde 2013 als eigener Straftatbestand ins Strafgesetzbuch aufgenommen (§ 226a StGB). Damit wurde für Mädchen und Frauen konsequent verwirklicht, was in einem Rechtsstaat gleichermaßen und selbstverständlich für beide Geschlechter gelten sollte.
Allerdings wurde nur kurz zuvor, im Dezember 2012, das deutsche „Beschneidungsgesetz“ § 1631 d BGB erlassen, durch das die Durchführung einer Vorhautamputation an Jungen in Deutschland weitgehend und nur mit minimalen, nicht überwachten Bedingungen straffrei gestellt wurde.
Durch die Existenz dieser beiden Gesetze nebeneinander entsteht eine Schieflage, die – neben der inhärenten Verfassungswidrigkeit des § 1631 d BGB – dem Artikel 3 des Grundgesetzes („Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich … Männer und Frauen sind gleichberechtigt …“) widerspricht. Die Konsequenz aus dem Inkrafttreten von § 226a StGB sollte daher eigentlich sein, § 1631 d BGB wieder abzuschaffen.
Die tatsächlich eingetretene Entwicklung ist aus Sicht von intaktiv jedoch absolut zu verurteilen: Das für Jungen geltende „Beschneidungs“-Erlaubnisgesetz wird im Zusammenhang mit Artikel 3 des Grundgesetzes dazu missbraucht, eine Legalisierung bestimmter Formen der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen zu fordern – insbesondere den anatomisch äquivalenten FGM-Typ I A!
Die weitverbreitete Darstellung, dass weibliche Genitalverstümmelung und „Beschneidung“ von Jungen aufgrund der Unterschiede bei Schweregrad, Umständen und gesundheitlichen und sexuellen Folgen nicht vergleichbar sind, kann nicht aufrechterhalten werden. Auf verschiedensten Ebenen existieren zahlreiche Parallelen zwischen beiden Praktiken und für die weniger invasiven Formen von FGM lassen sich keine stärkeren Beeinträchtigungen nachweisen als für eine Vorhautamputation bei Jungen.
Versuche, die weibliche und männliche Genitalverstümmelung juristisch und ethisch dennoch unterschiedlich einzuordnen, führen zu Widersprüchen vor dem Hintergrund von Grund- und Menschenrechten und zwangsweise inkonsequenter, angreifbarer Argumentation.
Ein sicherer Schutz für Mädchen und Frauen kann daher nur erreicht werden, wenn auch Jungen das Recht auf genitale Unversehrtheit und Selbstbestimmung zuerkannt wird.
Ob Mädchen oder Junge – es gibt nur eine Rechtfertigung für Eingriffe an den Geschlechtsorganen von Kindern und das ist eine absolut zweifelsfreie medizinische Indikation!